Türkei-Wahlen: Erdogan ist der Sieger

Hohe Inflation und Arbeitslosigkeit, gnadenlose Repressionen gegen Kritiker, schlechtes Krisenmanagement nach dem Erdbeben und eine tiefgespaltene Gesellschaft – eigentlich steckt die Türkei in einer massiven Krise. Verantwortlich hierfür ist der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der seit mehr als 20 Jahren an der Macht ist und das Land mit seinem Präsidialsystem de facto seit Jahren allein regiert.

Anscheinend können ihm aber all diese Probleme nichts anhaben. Bei der Wahl um das Präsidentenamt hat der 69-Jährige besser abgeschnitten als erwartet. Mit 49,5 Prozent der Stimmen fehlten ihm nur 0,6 Prozent, um über die 50-Prozent-Marke zu kommen und im ersten Wahlgang zu siegen.

Erdogan liegt mit beinahe fünf Prozentpunkten vor seinem Rivalen Kemal Kilicdaroglu vom stärksten Wahlbündnis der Opposition. Die Stichwahl findet in gut zwei Wochen statt. Und bei der anstehenden zweiten Runde hat Präsident Erdogan bessere Chancen als sein Herausforderer.

Vorsprung vor der Opposition

Für Politikwissenschaftler Emre Erdogan von der Bilgi Universität haben die AKP und ihr Chef Recep Tayyip Erdogan zwar an Stimmen eingebüßt. Dennoch liege der Präsident trotz Pandemie, Wirtschaftskrise und Erdbeben weiter vorn. Die 50 Prozent-Marke habe er knapp verpasst, aber auch sein Wahlbündnis, die Volksallianz, habe mit 49,5 Prozent einen zehn Prozent Vorsprung vor der Opposition, so der Wissenschaftler aus Istanbul.

Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu auf einer Wahlveranstaltung in der nordwestlichen Stadt Bursa. Hinter ihm sind Erdogans Wahlplakate zu sehen.

Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu in der nordwestlichen Stadt Bursa

Erdogans größte Verbündete, die fast totgesagte ultranationalistische MHP, kam auf einen Stimmenanteil von mehr als zehn Prozent, “das darf man nicht außer Acht lassen”, so der Politikwissenschaftler Emre Erdogan im Interview mit der DW. 

Laut vorläufigen Endergebnissen hat die Regierungsallianz mit 322 Sitzen von 600 ihre Mehrheit im Parlament verteidigt. Das Oppositionsbündnis, das aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien besteht, kam auf 213 Sitze.

Die drittstärkste Kraft des Parlaments, die prokurdische HDP, die bei diesen Wahlen das “Bündnis für Arbeit und Freiheit” führte, verzeichnet ebenfalls Verluste. Sie wird nur noch 61 Abgeordnete in die künftige Nationalversammlung schicken.

Umfrageinstitute lagen falsch

Dabei haben die meisten Umfragen auf einen Sieg der Opposition hingedeutet. Danach hatte der Oppositionsführer Kilicdaroglu die Nase vorn. Nun zeigen die vorläufigen amtlichen Ergebnisse, dass alle falsch lagen.

Sogar im Erdbebengebiet hat die AKP haushoch gewonnen. In Kahramanmaras, im Epizentrum der verheerenden großen Erdbeben vom 6. Februar, erzielte Präsident Erdogan 71,9 Prozent der Stimmen. Dies bedeutet ein Verlust von lediglich 2,3 Prozent.

Sind Erdogan und seine Allianz unter diesen Umständen der absolute Sieger? Für Beate Apelt, Leiterin der Friedrich Naumann Stiftung für Freiheit in Istanbul, nicht. Noch nie sei es so knapp gewesen für Erdogan bei irgendeiner Wahl, noch nie habe er sich einer Stichwahl stellen müssen, erinnert Apelt.

Für sie ist der Sieger der große Teil der Gesellschaft, der den Wunsch nach einer anderen Politik, mehr Freiheit und Demokratie ausgedrückt habe. Außerdem habe es die Opposition geschafft, über ein sehr großes politisches Spektrum hinweg einen gemeinsamen Wahlkampf zu absolvieren.

Erdogan nach dem ersten Wahlgang am Sonntag mit seiner Frau Emine auf dem Balkon der AKP-Zentrale.

Erdogan nach dem ersten Wahlgang am Sonntag mit seiner Frau Emine.

Und der Wahlkampf sei alles andere als fair verlaufen. Apelt weist darauf hin, dass etwa 90 Prozent der Medien regierungstreu und große Teile der Bevölkerung einfach nur der Weltsicht der regierenden Allianz ausgesetzt seien. Ein weiterer Grund seien sicher die zahlreichen Wahlgeschenke, die Präsident Erdogan in den vergangenen Monaten verteilt habe, so wie der erhöhte Mindestlohn, bessere Gehälter im öffentlichen Dienst und Frührente. Die Menschen seien dankbar für solche Erleichterungen und zeigten das an der Wahlurne, so Apelt.

Strategische Wahlgeschenke

Auch der Politikwissenschaftler Emre Erdogan teilt diese Einschätzung. Seiner Ansicht nach spielten die Wahlgeschenke des türkischen Präsidenten eine wichtige Rolle. Denn wenn der türkische Präsident für einen Monat kostenloses Erdgas verspreche, denke niemand angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation daran, ob es mittelfristig schlecht für die staatliche Verschuldung sein könnte, so der Experte.

Zudem seien Wähler in der Türkei traditionell parteipolitisch getrieben. Probleme oder Fehlentwicklungen würden sie durch eine ideologische Brille betrachten. Da sie in ihrer eigenen Blase lebten und regierungsnahe Medien konsumierten, schaffe die Gegnerseite es kaum, in ihren Radar einzudringen, so der Politikwissenschaftler Emre Erdogan.

Eine weitere Rolle spiele auch die Religion, vor allem wenn sie instrumentalisiert werde, um die Gesellschaft zu polarisieren, wie es auch bei diesem Wahlkampf der Fall gewesen sei. So habe der türkische Justizminister Bekir Bozdag die Wahlen als eine  zur Abstimmung zwischen Gläubigen und Ungläubigen bezeichnet.

Welche Empfehlung geben Ultranationalisten?

Außerdem nutzte die Regierungspartei AKP den gesamten Staatsapparat für den Wahlkampf. Auch fast alle Minister waren im gesamten Land unterwegs, um für die Regierungsallianz zu werben, denn auch sie kandidierten fürs Parlament. Eine Trennung vom Amt und Mandat war nicht zu spüren. Erdogan selbst eröffnete jede Woche ein neues staatliches Großprojekt und verkündete kurz vor den Wahlen neue Entdeckungen, so wie den Fund von Erdölreserven im Osten.

Präsidentschaftskandidat Sinan Ogan von der rechtspopulistischen und ultranationalistischen ATA-Allianz bei einer Pressekonferenz hinter den Mikros. Hiner ihm ist grißer Schriftzug.

Der dritte Präsidentschaftskandidat Sinan Ogan ist eigentlich ein Außenseiter. Nun werden seine Wähler bei der Stichwahl eine Schlüsselrolle spielen.

Einen großen Teil der Wähler störte das anscheinend nicht. Fast die Hälfte stimmte für Erdogan. In den nächsten zwei Wochen werden beide Seiten versuchen, ihre Wähler erneut zu mobilisieren.

Entscheidend wird bei der Stichwahl außerdem sein, wie sich die Wählerschaft des drittplatzierten Präsidentschaftskandidaten Sinan Ogan verhält. Spricht Ogan von der ultranationalistischen und rechtspopulistischen ATA-Allianz eine Wahlempfehlung aus, ist es ungewiss, ob seine Wählerschaft ihm folgen wird. Ideologisch gesehen hat Ogan mehr Bezug zum Regierungslager.

Kilicdaroglu will Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik 

Da in der Türkei das Präsidialsystem herrscht und der Präsident auch der Regierung vorsteht, hängt nun die Zukunft des Landes von der Stichwahl in zwei Wochen ab. Wird Erdogan wieder gewählt, erwartet Beate Apelt von der Friedrich Naumann Stiftung keine großen Veränderungen. Der türkische Präsident werde weiter ein schwieriger Partner sein. Ein Partner, der die Außenbeziehungen nicht auf Grundlage von Werten und nur teilweise auf Grundlage vereinbarter Spielregeln gestaltet, sondern in erster Linie entsprechend eigener Interessen, so Apelt.

Damit werden die EU und auch die NATO aktiv umgehen müssen, sagt Apelt, denn es gebe eine Vielzahl von gegenseitigen Abhängigkeiten und gemeinsam zu lösenden Problemen. Allerdings sei die Türkei in einer äußerst schwierigen wirtschaftlichen Lage, die sich nach diesem Wahlausgang noch verschärfen dürfte, fügt Apelt hinzu.

Das könnte ihrer Meinung nach die Position der EU stärken. Es könnte durchaus möglich sein, dass sich etwa Fragen wie der NATO-Beitritt Schwedens auch mit einem Präsidenten Erdogan in näherer Zukunft lösen lassen, so Apelt weiter.

Auch der Wissenschaftler Murat Erdogan von der Ankara Universität geht nach der jetzigen Lage von Erdogans Sieg bei der Stichwahl aus. Falls aber sein Rivale Kilicdaroglu die Wahlen doch für sich entscheiden sollte, erwarte er eine neue Politik gegenüber der EU. Er erinnert an Kilicdaroglus Wahlversprechen zu visafreier Reise in die EU und zum Flüchtlingspakt. Kilicdaroglu hatte angekündigt, das Flüchtlingsabkommen auf den Prüfstand zu stellen und wenn nötig, es neu zu verhandeln.

Auch die Flüchtlingspolitik wolle Kilicdaroglu neu justieren, ergänzt der Migrationsforscher. Er verspreche alle Syrer – mit Syrer seien alle Flüchtlinge gemeint – spätestens in zwei Jahren nach Hause zu schicken. Ob diese Veränderungen in der Außenpolitik eintreten werden, wird die Stichwahl am 28. Mai zeigen.