“Raschismus”: So prangert die Ukraine Russlands Krieg an

Seit dem russischen Einmarsch gehört das Wort “Raschismus” zum Alltagsvokabular in der Ukraine. Bürger, Medien und Politiker nutzen es, um Parallelen zwischen dem aktuellen Krieg und dem Zweiten Weltkrieg zu ziehen. “Raschismus ist ein Begriff, der in die Geschichtsbücher eingehen wird”, verkündete Präsident Wolodymyr Selenskyj Ende April. Nun hat das ukrainische Parlament diesen Terminus zum ersten Mal definiert. In einer am 2. Mai verabschiedeten Resolution heißt es, “Raschismus” sei “russischer Faschismus”. Neu ist die Wortschöpfung aber nicht – sie wurde schon früher gebraucht und nicht nur in der Ukraine.

Der Begriff “Raschismus” entstand vor Jahren unter Journalisten im postsowjetischem Raum. Er ist eine Fusion der englischen Wörter “Russia” (Russland) und “Fascism” (Faschismus) – ein sogenanntes Kofferwort. In der Sowjetunion stand “Faschismus” als Synonym für Nationalsozialismus, und in den Nachfolgestaaten, vor allem in Russland, ist das bis heute so. Im Westen dagegen wird Faschismus vor allem mit Bezug auf das Regime in Italien verwendet, der in den 1920er Jahren entstand.

Gebäude des ukrainischen Parlamentes mit Nationalfarben Blau-Gelb an den Säulen des Portals und Menschen auf dem Platz davor, Archiv

Definition durch eine Parlamentsresolution: die ukrainische Werchowna Rada

Nach der Krim-Annexion 2014 wurde “Raschismus” in der Ukraine immer populärer. “In der ukrainischen Gesellschaft wurde nach einem passenden Namen für den Aggressor gesucht”, sagt der Harvard-Professor und Ukraine-Historiker Serhii Plokhy im DW-Gespräch. Dass der Begriff “Raschismus” jetzt in einem Parlamentsbeschluss auftauche, spiegele diesen  anhaltenden Prozess.

So beschreibt das ukrainische Parlament “Raschismus”   

Die zweitseitige Resolution der Werchowna Rada, des ukrainischen Parlaments, beschreibt “Raschismus als eine neue Art der totalitären Ideologie und Praxis”. Er sei die Grundlage des Regimes, das sich in Russland unter Präsident Wladimir Putin etabliert habe. Das Parlament in Kiew zählt dazu “russischen Chauvinismus” und “Imperialismus”, aber auch das Erbe des “kommunistischen Regimes der UdSSR und des Nationalsozialismus”.

In einer Liste von Merkmalen des “Raschismus” erwähnen ukrainische Parlamentarier unter anderem “systematische Verletzungen der Menschenrechte und der Grundfreiheiten”,  einen “Kult der Gewalt und Militarismus”, “Personenkult des Anführers und Sakralisierung staatlicher Institutionen” sowie die “Selbsterhöhung Russlands und der Russen auf Kosten der gewaltsamen Unterdrückung und/oder Ablehnung der Existenz anderer Völker”. Der letzte Punkt bezieht sich offensichtlich auf  die Behauptung der russischen Propaganda, es gebe kein eigenständiges ukrainisches Volk.  

Präsident Russlands Wladimir Putin seit an einem Tisch vor Mikrofonen, März 2023

“Putinismus” könnte ein Synonym für “Raschismus” sein – Russlands Präsident Wladimir Putin

Wo “Raschismus” dem Faschismus und Nazismus ähnelt…

“Das ist ein origineller Schritt, der ungewöhnlich ist und wahrscheinlich viele Historiker, Diplomaten und Journalisten überrascht”, sagt Andreas Umland, Ukraine-Experte beim Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien, der DW. Möglicherweise ergebe es Sinn, eine Definition im Parlament zu verabschieden. Damit werde ein Begriff gebildet, der russische Besonderheiten berücksichtige und es ermögliche, von den Vergleichen mit dem deutschen Nationalsozialismus wegzukommen – denn diese sind aus Umlands Sicht nicht  stichhaltig. “Der deutsche Faschismus war etwas Besonderes, etwas spezifisch Deutsches.”

Martin Schulze Wessel, Osteuropa-Historiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hält den Begriff “Raschismus” für angemessen: “Es ist eine politische Entscheidung des ukrainischen Parlaments, Russland so zu bezeichnen, die im Krieg völlig nachvollziehbar ist.” Die Bezeichnung sei “geschickt, weil sie vorhandene Ähnlichkeiten mit dem Faschismus hervorhebt, aber gleichzeitig die russische Spezifik betont”, so Schulze Wessel. Zu den Ähnlichkeiten zählt er “Führerbezug, Personenkult, im gewissen Maße Militarismus”. mmm.

…und wo beide sich unterscheiden 

Ein Unterschied zwischen “Raschismus” und Faschismus bzw. Nationalsozialismus sei der zum Faschismus gehörende Antisemitismus, so Schulze Wessel. Einen “programmatischen Antisemitismus” in Russland kann auch der deutsche Publizist und Ukraine-Kenner Winfried Schneider-Deters nicht erkennen. “Russischer Faschismus”, so schreibt er, sei ein Alternativausdruck für “Putinismus”. Schneider-Deters: “Putinismus ist Faschismus, eine der vielen Varianten des italienischen Originals.” 

Andreas Umland verweist auf noch einen Unterschied: “Von der Forschung wird angenommen, dass Faschismus eine revolutionäre Ideologie ist, in der es um die Neugestaltung, die Neugeburt des gesamten Landes geht. Das trifft auf Russland nicht zu.” Das habe auch damit zu tun, dass Putin – anders als Hitler – “ein Repräsentant des alten Regimes” sei, so Umland. Der Kremlchef sei ein “Funktionär des sowjetischen Regimes, der seinen Blick auf die Vergangenheit und nicht so sehr auf die Zukunft” richte.

Kann “Raschismus” ein Straftatbestand sein? 

Das ukrainische Parlament hat “Raschismus” verurteilt und will an die UN und andere internationale Organisationen, Regierungen und Parlamente appellieren, das Gleiche zu tun. Es hofft nicht nur, “die Welt an die Verbrechen Russlands zu erinnern”, sondern möchte damit auch später Russlands Führung zur Verantwortung ziehen.         

Ob der Begriff “Raschismus” international anerkannt wird und sich verbreitet, das mögen die Experten nicht voraussagen. Martin Schulze Wessel argumentiert, dass für das internationale Strafrecht nur internationale Straftatbestände relevant sind, zum Beispiel Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Winfried Schneider-Deters formuliert es so: “Dabei ist es gleichgültig, ob die Klassifizierung des ‘Putinismus’ als ‘Faschismus’ (oder als ‘Nazismus’) wissenschaftlich ist oder nicht, solange ‘Putins Krieg’ in der Ukraine dauert, geht es um die publizistische Wirkung dieses Begriffs.” Um eine wissenschaftliche Einordnung können Historiker und Politologen sich später kümmern – nach dem Krieg.

Mitarbeit: Danilo Bilek