“Pioniere der Neugründung Europas”

Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordern eine selbstbewusstere Rolle der Europäischen Union in der Welt. “Womöglich stehen wir vor einer noch viel größeren Zeitenwende. Einer Zeitenwende hin zu einer multipolaren Welt, der wir nicht mit dem Rückzug ins nationale Schneckenhaus begegnen können”, sagte Scholz in Paris bei einem Festakt zum 60. Jahrestag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages. Man könne sich “kein kleines, verzagtes Europa” mehr leisten, das sich nationalen Egoismen hingebe und Gräben aufreiße zwischen Ost und West, Nord und Süd.

Die Kräfte müssten gerade dort gebündelt werden, wo die Nationalstaaten allein an Durchsetzungskraft eingebüßt hätten – “bei der Sicherung unserer Werte in der Welt, beim Schutz unserer Demokratie gegen autoritäre Kräfte. Aber auch im Wettbewerb um moderne Technologien, bei der Sicherung von Rohstoffen, bei der Energieversorgung oder in der Raumfahrt”, erläuterte Scholz.

Macron rief die Bundesrepublik und sein eigenes Land dazu auf, “Pioniere der Neugründung Europas” zu werden. Diese Rolle komme ihnen zu, weil sie nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam den Weg der Aussöhnung gegangen seien. Die EU müsse ihrerseits die Rolle als “geopolitische Macht” in der Welt voll ausfüllen.

60. Jubiläum des Élysée-Vertrags | Frankreich, Paris | Festveranstaltung in der Sorbonne

Volles Haus: Festveranstaltung in der Sorbonne

In einer gemeinsamen Erklärung heißt es: “Die Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten ist von entscheidender Bedeutung.” Ausdrücklich bekannten sich die Regierungen in Paris und Berlin zur Entwicklung eines gemeinsamen Kampfpanzers. Eine Zusage zur Lieferung vorhandener Kampfpanzer an die von Russland angegriffene Ukraine gaben Macron und Scholz nicht ab. Sie verständigten sich allerdings darauf, zwei Bataillone der Deutsch-Französischen Brigade zu Übungen nach Litauen und nach Rumänien, ein Nachbarland der Ukraine, zu entsenden.

Freundschaft – 18 Jahre nach Kriegsende

Am 22. Januar 1963 hatten Deutschland und Frankreich den Élysée-Vertrag unterzeichnet, das Fundament der Freundschaft nach Jahrhunderten der Rivalität. Scholz war anlässlich des 60. Jahrestages gemeinsam mit 19 Ministerinnen und Ministern und etwa 120 Bundestagsabgeordneten nach Paris gereist – ein so hochrangig besetztes Treffen beider Länder hatte es zumindest in jüngerer Vergangenheit nicht gegeben.

Differenzen zwischen Paris und Berlin etwa in der Finanz- und Industriepolitik spielte der Bundeskanzler in einer Rede an der Universität Sorbonne herunter. “Der deutsch-französische Motor ist eine Kompromissmaschine – gut geölt, aber zuweilen eben auch laut und gezeichnet von harter Arbeit”, betonte Scholz. “Seinen Antrieb bezieht er nicht aus süßem Schmus und leerer Symbolik. Sondern aus unserem festen Willen, Kontroversen und Interessenunterschiede immer wieder in gleichgerichtetes Handeln umzuwandeln.” Scholz verglich das deutsch-französische Verhältnis mehrfach mit einem Geschwisterpaar.

Macron hingegen beschrieb die Beziehung mit den Worten Goethes: “Zwei Seelen wohnen in meiner Brust”. Und er erklärte: “Über Deutschland zu sprechen heißt für einen Franzosen, über einen Teil von sich selber zu sprechen.”

Scholz: “Deutsch-französischer Motor ist Kompromissmaschine”‘

Außerdem …

… formulierten Scholz und Macron das Ziel, dass Europa auch technologisch souveräner werden und eine Antwort auf milliardenschwere US-Subventionen für klimafreundliche Technologien finden müsse. Diese knüpft die Regierung in Washington daran, dass Unternehmen US-Produkte verwenden oder selbst in den Vereinigten Staaten produzieren. Es gehe darum, “dass wir als Europäische Union nicht schlechter behandelt werden als unmittelbare Nachbarn (der USA)”, sagte Scholz. Außerdem müssten bürokratische Hürden für europäische Subventionen abgebaut werden.

Mit Blick auf die Energieversorgung soll die geplante Wasserstoffleitung namens “H2Med” zwischen Barcelona und Marseille bis nach Deutschland verlängert werden. Deutschland und Frankreich wollen zudem bis April eine gemeinsame Strategie für die Produktion von Wasserstoff vorlegen. Dabei klingt durch, dass die Bundesregierung Abstriche bei ihrer Forderung macht, in erster Linie “grünen” Wasserstoff aus erneuerbaren Energien zu produzieren. In der gemeinsamen Erklärung ist von “kohlenstoffarmem” Wasserstoff die Rede, was auch den mithilfe von (französischem) Atomstrom hergestellten Wasserstoff einschließt.

Bei einer Pressekonferenz mit Macron lobte Scholz ausdrücklich die “europäische Solidarität” in Energiefragen. Es sei vor einem Jahr nicht vorstellbar gewesen, dass ein Wegbrechen russischer Gaslieferungen ohne Wirtschaftskrise zu bewältigen sei. Der Kanzler verwies darauf, dass Frankreich Deutschland mit Gas aushilft und umgekehrt Deutschland Frankreich mit Strom.

Die am ehesten bürgernahen Vorhaben beider Länder betreffen den Schienenverkehr: So soll es ab kommenden Jahr eine Hochgeschwindigkeitsverbindung und einen Nachtzug zwischen Berlin und Paris geben. Die Verkehrsminister kündigten zudem 60.000 kostenlose Bahntickets für junge Menschen für diesen Sommer an, die damit das jeweilige Nachbarland erkunden sollen.

wa/gri (rtr, afp, dpa)