Gedenken statt Siegesfeier: Wie der 8. und 9. Mai in der Ukraine begangen wird

“Die meisten Völker der Welt erinnern am 8. Mai an den großen Sieg über den Nationalsozialismus”, erklärte jüngst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Damit begründete er einen Gesetzentwurf, den er dem Parlament vorgelegt hat, der vorsieht, dass künftig auch in der Ukraine einzig an diesem Tag an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa erinnert werden soll.

Bereits seit 2015 wird in der Ukraine der 8. Mai als Tag des Gedenkens und der Versöhnung begangen, während der 9. Mai noch in sowjetischer Tradition als Tag des Sieges gefeiert wurde. Selenskyj zufolge soll jedoch dieser Tag nun zum Europatag werden. Der Europatag wird alljährlich am 9. Mai für Frieden und Einheit in Europa begangen. Er markiert den Jahrestag der Erklärung von Robert Schuman, in der dieser seine Idee für eine neue Form der politischen Zusammenarbeit in Europa vorstellte, die einen Krieg zwischen den Nationen Europas undenkbar machen sollte.

Menschen halten Fahnen der Ukraine und EU in ihren Händen

Wie in der EU soll nun auch in der Ukraine der 9. Mai Europatag sein

“Wir werden an unsere historische Einheit erinnern, die Einheit aller Europäer, die den Nationalsozialismus zerstört haben und den Raschismus besiegen werden”, erklärte Wolodymyr Selenskyj. Der Begriff “Raschismus” ist im Laufer der vergangenen 20 Jahre durch Verschmelzung der Wörter Russia (englisch für Russland) und Faschismus entstanden und wurde zunächst insbesondere von russischen Dissidenten geprägt. Er steht für die in Russland unter Wladimir Putin herrschende totalitäre Ideologie, eine Symbiose von Faschismus und Stalinismus, und wird im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verwendet.

Keine Massenveranstaltungen

Wie seit Beginn der umfassenden Invasion Russlands der Ukraine im Februar 2022 sind auch in diesem Jahr für den 8. und 9. Mai keine Massenveranstaltungen in der ukrainischen Hauptstadt geplant. Aus Sicherheitsgründen fordern die Behörden die Menschen auf, Menschenansammlungen zu meiden. In Kiew patrouillieren in diesen Tagen Ordnungskräfte durch Straßen, in Parks und über Plätze und achten besonders auf Orte, an denen üblicherweise Blumen niedergelegt werden. Darüber hinaus wurde im Vorfeld des 9. Mai vor möglichen Provokationen und wahrscheinlichen russischen Angriffen gewarnt.

Die meisten der von der DW befragten Passanten auf den Straßen in der Nähe des Denkmals für den unbekannten Soldaten stehen Selenskyjs Initiative neutral oder positiv gegenüber. Der 35-jährige Artur ist von der Nachricht über die Änderung der Gedenktage im Mai begeistert. “Dieser russische ‘Tag des Sieges’ am 9. Mai scheint mir der zynischste aller ihrer Feiertage zu sein. Was feiern sie überhaupt? Die Ukraine hat der Sieg über den Nationalsozialismus zehn Millionen Tote gekostet, und man sollte daran erinnern, der Opfer gedenken, und nicht feiern”, meint der Mann. “Wer kann uns schon verbieten, den 9. Mai so zu feiern, wie wir es gewohnt sind? Wir werden sowohl den 8. als auch den 9. Mai begehen”, sagt Tatjana, eine Frau mittleren Alters. Der Rentner Mykola Trochimowytsch ist da skeptischer. “Ich bin 84 Jahre alt, beziehe Sozialleistungen wie alle ‘Kinder des Krieges’. Früher war der 9. Mai ein großer Feiertag, aber jetzt ändert sich alles. Ob dies funktionieren wird, werden wir noch sehen”, sagt er.

Parade auf dem Roten Platz in Moskau

In Russland wird der Tag des Sieges traditionell mit einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau gefeiert

Verändertes Gedenken

“Der Tag des Sieges wird in vielen Ländern am 8. Mai begangen, weil dies eine historische Wahrheit ist”, sagt Anton Drobowytsch, Direktor des Ukrainischen Instituts für nationales Gedenken, im Gespräch mit der DW. Ihm zufolge wurde auf den politischen Willen der sowjetischen Führung hin in der Sowjetunion und den Ländern unter ihrem Einfluss der 9. Mai als Tag des Sieges gefeiert, wodurch das historische Datum einfach verschoben worden sei. Deshalb werde in der Ukraine nun “die historische Gerechtigkeit wiederhergestellt”.

Laut Drobowytsch steigt der Anteil der Menschen, die den 8. Mai als Tag des Gedenkens und der Versöhnung in der Ukraine betrachten, von Jahr zu Jahr an. “Seit 2015 wird diese europäische Tradition empfohlen, in der Ukraine diskutiert und schrittweise in den historischen Kontext eingeführt. Jedes Jahr bereiten wir Schulungsmaterial für junge Menschen vor und erzählen darüber. Aber wir sind ein demokratisches Land und niemand verbietet, weiterhin am 9. Mai Blumen an sowjetischen Denkmälern niederzulegen. Auf staatlicher Ebene allerdings macht es keinen Sinn, propagandistische und historisch falsche Daten zu verteidigen”, sagt der Direktor des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken.

Anton Drobowytsch, Leiter des Ukrainischen Instituts für nationales Gedenken

Anton Drobowytsch leitet das Ukrainische Institut für nationales Gedenken

Die Einstellung der ukrainischen Gesellschaft zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wird auch durch Russlands Krieg gegen die Ukraine beeinflusst, was Studien bestätigen. Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS), die im Januar 2023 durchgeführt wurde, unterstützen 62 Prozent der Ukrainer den 8. Mai als Tag des Gedenkens und der Versöhnung. Nur 22 Prozent der Befragten wollen den 9. Mai weiterhin als Tag des Sieges über den Nationalsozialismus feiern. 85 Prozent halten die Sowjetunion für mitverantwortlich und mitschuldig am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Darüber hinaus gaben 68 Prozent der Befragten zu, dass der russische Angriff auf die Ukraine ihre Sicht auf die eigene Vergangenheit und Geschichte der Ukraine erheblich verändert habe.

Laut Serhii Plokhy, Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard University, hängt die Ablehnung der Ukrainer, den Tag des Sieges am 9. Mai zu feiern, damit zusammen, wie Russland diesen Feiertag ausnutzt. “Die russische Propaganda benutzte und benutzt weiterhin diesen äußerst politisierten Mythos des Großen Vaterländischen Krieges, um den heutigen Krieg zu führen”, betont er im Gespräch mit der DW.

Mitarbeit: Liliia Rzheutska, Danilo Bilek 

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk