Gedenken an Solingen: Steinmeier wirbt für wehrhaften Staat

Mit Blick auf die Opfer des Brandanschlags hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor einer Verharmlosung rechtsextremer Strukturen gewarnt. “Viel zu lange saß unser Land der durch nichts gestützten, aber ständig wiederholten Behauptung auf, es seien verblendete Einzeltäter, die ihr Unwesen treiben”, sagte Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung in Solingen. “Die Strukturen dahinter und die Ideologie der Täterinnen und Täter wurden lange übersehen, ignoriert, teils auch verdrängt”, betonte er in der nordrhein-westfälischen Stadt. “Ich nenne das: Terror. Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen. Es gibt eine Kontinuität von rechtsextremer und rassistischer Gewalt in unserem Land.”

Deutschland Gedanken an Familie Genc

Dieses Denkmal in Solingen erinnert an die Opfer aus der Familie Genc

Das Staatsoberhaupt erinnerte an die Angst in der Zeit nach dem Anschlag: So seien in Solingen Strickleitern ausverkauft gewesen. “Die Menschen hatten Angst, sich im Notfall sonst nicht mehr aus dem oberen Stockwerk ihres Hauses retten zu können. In den Wohnungen standen damals Wassereimer bereit, um bei einem Feuer schnell löschen zu können. An den Klingelschildern und Briefkästen wurden alle fremd klingenden Namen abmontiert.”

Steinmeier mahnte die besondere Verantwortung des Staates und seiner Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und jede Form von Menschenfeindlichkeit an. “Jeder Mensch muss in unserem gemeinsamen Land in Sicherheit und Frieden leben können, und der Staat muss besonders diejenigen schützen, die ein höheres Risiko haben, Opfer von Gewalt zu werden. Dafür muss er alles, ja, dafür muss er noch mehr tun.” Es brauche “einen wehrhaften, einen wachsamen, einen aufrichtigen Staat”, sagte Steinmeier. Er rief auch jede Bürgerin und jeden Bürger auf, Verantwortung zu übernehmen, bei Übergriffen einzugreifen oder Lügen, Hass und Hetze zu widersprechen.

Fünf Menschen starben den Feuertod

Am 29. Mai 1993 hatten vier Rechtsextremisten in Solingen das Haus einer Familie aus der Türkei in Brand gesetzt. Zwei junge Frauen und drei Mädchen starben in den Flammen oder bei dem Versuch, sich davor zu retten. Zum Gesicht der Familie wurde Mevlüde Genc, die zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verlor. Genc, die sich dennoch jahrelang für Verständigung, Versöhnung und gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzte, war im Oktober im Alter von 79 Jahren gestorben. Solingen markierte den Höhepunkt einer Serie fremdenfeindlicher Verbrechen in der ersten Hälfte der 90er Jahre in der Bundesrepublik.

Solingen Beerdigung Mevlüde Genç

Viele Menschen nahmen 2022 Abschied von der verstorbenen Mevlüde Genc

Rund 600 Menschen kamen am Montag in das Theater und Konzerthaus von Solingen. Die Gäste erhoben sich, als die Namen der fünf Toten verlesen wurden. Anwesend waren Vertreterinnen und Vertreter der Familien. Aus der Politik waren neben Steinmeier unter anderen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und Bundesinnenministerin Nancy Faeser gekommen. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte den Anschlag in Solingen auf Twitter einen dunklen Tag. Und: “Mit Respekt für unsere vielfältige Gesellschaft können wir viel erreichen.”

Faeser fordert entschlossenes Vorgehen gegen Rechtsextremismus

Bundesinnenministerin Faeser sieht die Politik in der Verantwortung, entschieden gegen rechtsradikale Tendenzen in der Gesellschaft vorzugehen. “Damals sind wir nicht früh genug entgegengetreten, damals haben wir nicht die Zusammenhänge gesehen”, sagte die SPD-Politikerin in Solingen. “Und das war ein Versäumnis der damaligen Politik.” Angesichts der fremdenfeindlichen Anschläge der vergangenen Jahre müsse man “alles dafür tun”, dass Menschen mit Migrationshintergrund genauso sicher wie alle anderen in Deutschland leben könnten.

30 Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen bestehen nach den Worten des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst “der Rassismus und die Bedrohung der extrem rechten Gewalt” fort. “Auch heute werden Menschen wegen ihrer Wurzeln, Kultur oder Religion ausgegrenzt, diskriminiert und angefeindet”, sagte der CDU-Politiker bei der Gedenkveranstaltung. Rassismus zeige sich von subtiler Alltagsdiskriminierung über Hetze im Netz bis hin zu rechtsextremen Gewalttaten, betonte Wüst. 

Deutschland Solingen Brandanschlag Gedenkfeier 30. Jahrestag

Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, spricht bei der Gedenkfeier

Solingen stehe bis heute für “schlimmste Menschenfeindlichkeit in niederträchtigster Form”, die Stadt im Bergischen Land sei aber kein Einzelfall. Wüst erinnerte an die Anschläge und Ausschreitungen in Rostock, Hoyerswerda, Mölln, München, Kassel, Halle und Hanau sowie die Morde des rechtsterroristischen Netzwerks NSU.

Özdemir: “Absage an die liberale Demokratie”

Bundesagrarminister Cem Özdemir äußerte sich in Solingen auch zu den Folgen der Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für die Gesellschaft in Deutschland. Der türkischstämmige Grünen-Politiker verwies darauf, dass viele in Deutschland tätige Imame von der türkischen Religionsbehörde entsandt würden. Man müsse erörtern, welche Konsequenzen es habe, “wenn die nächste Generation von Imamen aus der Türkei noch nationalistischer, noch religiös fundamentalistischer sein wird. Das werden ja welche sein, die Kinder beeinflussen in Deutschland”.

Auch der laute Jubel vieler Erdogan-Anhänger in deutschen Städten sende ein verstörendes Signal an die deutsche Gesellschaft, so Özdemir. “Die hupen, weil jemand eine Wahl gewonnen hat, der das Land in eine Art offenes Gefängnis verwandelt, während sie hier gleichzeitig die Vorzüge einer liberalen Demokratie genießen.” Wenn junge Türken den Erdogan-Sieg so ausgelassen feierten, sei das “gleichzeitig auch eine Absage an das Zusammenleben hier, eine Absage an die liberale Demokratie”, unterstrich der Minister.

kle/qu (afp, epd, dpa, kna)