EU-Ukraine-Gipfel: Gespräche im Kriegsgebiet

Es wird die größte EU-Delegation sein, die Kiew seit dem Beginn der russischen Invasion besucht: Gleich 16 EU-Kommissare, darunter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Chefdiplomat Josef Borrell sowie Ratspräsident Charles Michel, unternehmen die nicht ungefährliche Zugreise durch die kriegsgeschundene Ukraine. Die Kommissare kommen an diesem Donnerstag zu Gesprächen mit der Regierung in Kiew zusammen. Am Freitag findet in der ukrainischen Hauptstadt dann ein offizieller EU-Ukraine-Gipfel statt – der erste in einem Kriegsgebiet. 

“Das ist, ganz klar, ein sehr starkes Symbol”, sagt Marie Dumoulin, Direktorin des Programms “Wider Europe” (Erweitertes Europa) beim Think Tank “European Council on Foreign Relations”. Die Treffen in Kiew sollten demonstrieren: “Wir haben keine Angst, zu Euch zu kommen. Wir sind bereit, dies für Euch zu tun.” 

Was steht auf der Tagesordnung? 

Vor allem die weitere militärische und finanzielle Unterstützung durch die Europäische Union dürften die Tagesordnung beherrschen, sagt Dumoulin. Das wurde der DW auch aus EU-Kreisen bestätigt. Die EU und ihre Mitglieder haben der Ukraine bereits Waffen und militärische Ausrüstung im Wert von 11,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. In diesem Jahr soll die Gemeinschaft außerdem 18 Milliarden Euro an finanzieller Unterstützung bereitstellen, damit die Regierung in Kiew Löhne und Renten weiterzahlen und öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser am Laufen halten kann. 

Ein ukrainischer Soldat steht neben einem Raketenwerfer

Der EU-Ukraine-Gipfel wird auch über die militärische und finanzielle Unterstützung für Kiew diskutieren

“Wahrscheinlich wird während des Gipfels auch über den Wiederaufbau der Ukraine gesprochen”, sagt Dumoulin. Die EU habe zusammen mit den G7-Industrienationen bereits damit begonnen, Institutionen aufzubauen, um private und öffentliche Geldgeber zu koordinieren, und um den Wiederaufbauprozess zu steuern. Was aber konkrete Ergebnisse beim Gipfel in Kiew angeht, so erwartet die Außenpolitik-Expertin und frühere französische Diplomatin keine großen Fortschritte. 

Multitasking in Kiew

Rosa Balfour, Leiterin der Brüsseler Denkfabrik Carnegie Europe, zeigt sich im DW-Interview hingegen überzeugt, dass der Gipfel nicht nur symbolischer Natur sein könne. Beide Seiten “brauchen etwas Konkretes”, argumentiert sie. Die EU sei bereits sehr weit in ihrer Unterstützung für die Ukraine gegangen, und die Regierung in Kiew erhöhe stetig den Druck auf Brüssel, mehr zu tun. 

“Was früher eine zweideutige europäische Politik gegenüber Osteuropa war, ist jetzt durch eine klare Haltung ersetzt worden, die anerkennt: die Ukraine ist ein Teil Europas und hat die Aussicht, der Union beizutreten”, sagt Balfour. Die Ukraine beantragte wenige Tage nach dem Einmarsch Russlands am 24. Februar 2022 die EU-Mitgliedschaft und erhielt im Juni 2022 den Kandidatenstatus. 

Balfour unterstreicht, wie “sehr schnell und gründlich” die Ukraine den Prozess der Anerkennung als Kandidatenland vorangetrieben hat. “Die ukrainische Regierung ist wirklich in der Lage, zwei so wichtige Aufgaben simultan zu meistern: Sie führt Krieg, hat aber auch einen Plan für politische Reformen, die notwendig sind, um der EU beizutreten”, sagt sie. 

Was soll der Gipfel erreichen? 

Der Gipfel in Kiew solle diese Bemühungen anerkennen und die Ukraine ermutigen, die Reformen fortzusetzen, bestätigen zwei hohe EU-Beamte der DW. Es wird erwartet, den 10-Punkte-Friedensplan von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew zu diskutieren, ebenso wie die Überlegungen, ein Sondertribunal zu schaffen und den russischen Präsidenten Wladimir Putin sowie Personen aus seinem engsten Umfeld anzuklagen.

Wie die EU-Vertreter aber auch betonen, sollte die ukrainische Regierung keine zu hohen Erwartungen haben, was eine baldige Beitrittsperspektive angeht. Die politische Beobachterin Balfour pflichtet dem bei. Die Botschaft an Kiew müsse lauten, dass die Ukraine von den Europäern voll unterstützt werde, der Beitrittsprozess aber Zeit brauche. 

EU-Mitgliedschaft im Schnellverfahren?

Balfour zitiert ein kürzlich erschienenes Interview mit dem ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal, in dem er von einem ehrgeizigen Plan sprach, der EU innerhalb der nächsten zwei Jahre beizutreten. “Es wird keinen beschleunigten Beitritt der Ukraine geben”, so Balfour, “aber es ist wichtig, dem Land Anreize zu bieten, Reformen fortzusetzen und Probleme anzugehen.”

Der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal spricht im vergangenen Oktober vor dem deutsch-ukrainischen Wirtschaftsforum, im Hintergrund die Europaflagge

Der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal: Binnen zwei Jahren in die EU?

Die Korruption in der Ukraine ist für Balfour eines der großen Probleme, das ganz oben auf der Agenda der europäischen Politik stehe. Vor allem, weil schon bald massive Finanzmittel mobilisiert werden müssten, um mit dem Wiederaufbau des Landes zu beginnen. Die Europäische Kommission hat kürzlich die Reformdynamik in der Ukraine lobend hervorgehoben. Einige Mitgliedstaaten bezweifeln jedoch, ob und in welchem Umfang tatsächlich Fortschritte erzielt wurden. 

Zuckerbrot und Peitsche

Erst kürzlich erschütterte ein Korruptionsskandal das Land, in dessen Folge mehrere hohe Regierungsbeamte entlassen wurden oder ihren Job aufgeben mussten. Balfour erwartet jedoch nicht, dass der Skandal den EU-Ukraine-Gipfel überschatten wird. Beide Seiten, die Ukraine und die EU, “müssen dafür sorgen, dass die öffentliche Meinung sich weiterhin für die Unterstützung der Ukraine ausspricht”. 

“Wir wollen nicht unbedingt öffentlich über die zugrunde liegenden Probleme der Korruption sprechen, weil es eine Frage der Moral ist. Und die Moral muss für die Ukrainer, aber auch für die Europäer aufrechterhalten werden”, gibt die Außenpolitik-Expertin zu bedenken. 

Balfour hat den Eindruck, die Gespräche in Kiew seien von beiden Seiten sorgfältig vorbereitet worden, und sie rechnet mit konkreten Zusagen. So könnte die EU der Ukraine zum Beispiel anbieten, die Zölle auf Einfuhren weiterhin zu senken oder das Land in die EU-weite Roaming-Zone für Mobiltelefone aufzunehmen. “Das ist nichts Großes, aber ich denke, es wird sich etwas bewegen. Beide Seiten wollen von ihren Begegnungen in Kiew eine positive Botschaft für ihr heimisches Publikum und füreinander senden.” Auch wenn die Ukraine keine Zusage für ein Schnellverfahren zur EU-Mitgliedschaft bekommt, sagt Balfour, werde die Regierung am Ende etwas Konkretes vorzeigen können.