Dubiose Hilfe für russische Flüchtlinge

Seit dem Überfall auf die Ukraine flüchten abertausende Russen ins Ausland. Die einen haben Angst vor Repressionen wegen ihrer Antikriegshaltung, die anderen versuchen, dem Armeedienst zu entgehen. Deutschland zählt dabei zu den begehrtesten Zielen, doch die bürokratischen Hürden sind hoch. Und viele, die fliehen, sind bereit, Geld zu bezahlen, viel Geld. So entstehen skurrile Beratungsangebote wie das von Sergej P. in Berlin: Er bietet auswanderwilligen Russen Pauschalreisen nach Deutschland an, Asylantrag inklusive.

Sergej selbst beschreibt sein Konzept als “Evakuierung aus Putins Reich” und behauptet, nichts daran zu verdienen. Doch allein für das erste Telefonat verlangt er mehr als 350 Euro – er sei so mit Anfragen überfordert, dass er nicht mit allen reden könne. Und nein, er bekomme das Geld nicht selbst, die Überweisung gehe auf das Konto seiner Verwandten in Russland, er sorge damit nur für den Unterhalt seiner Mutter. Gleichzeitig aber postet er auf Instagram Bilder von seinen Reisen: Mal ist er in Rom zu sehen, mal in Marseille, mal auf Rhodos. Und er verspricht seinen  Landsleuten daheim: Das alles könnt auch ihr haben, wenn ihr es erst einmal geschafft habt – so wie ich.

Alexej Koslow von der Initiative Freies Russland Berlin e.V. kann über solche Methoden nur den Kopf schütteln. In den vergangenen Monaten wurde auch seine Organisation geradezu überrannt mit Anfragen von Russen zum Asylrecht in Deutschland. Koslow sagt: “Es ist nicht illegal, Menschen dahingehend zu beraten. Was aber Sergej P. macht, ist ein Missbrauch der Verzweiflung.”

Wundersame Wandlung eines Bloggers

Sergej P. ist 39, geboren in der russischen Industriestadt Nischni Tagil, seit Februar 2020 befindet er sich in Deutschland. In seiner Heimat wurde er wegen Kritik an den Behörden in Südrussland politisch verfolgt. P. hatte sich mit Beamten angelegt, weil die seiner Meinung nach nichts gegen einen Fall von Umweltverschmutzung in seinem Dorf unternommen hatten. Er machte den Fall auf Instagram publik, die Behörden reagierten mit einem Ermittlungsverfahren gegen ihn.

Zwei Männer mit Koffern und Rucksäcken gehen über eine verstopfte Straße an Berghängen entlang

Nach der Teilmobilmachung im September 2022 versuchten tausende Russen – wie hier an der Grenze zu Georgien -, ins Ausland zu fliehen

Über seinen Fall berichtete auch die DW, die Organisation Reporter ohne Grenzen unterstützte seinen Asylantrag in Deutschland, dem Ende 2020 schließlich stattgegeben wurde. Kurz danach aber vollzog Sergej P. eine erstaunliche Kehrtwende: Er löschte kurzerhand den Account, auf dem er die russischen Behörden kritisiert hatte und eröffnete stattdessen einen neuen: “Einwanderung nach Deutschland, ein Beratungsbüro für Asylbewerber und Geflüchtete”.

Dort vermarktet er sich selbst als Mann der schnellen und effizienten Lösungen. “Russischer Reisepass in vier Tagen, spanisches Schengen-Visum in vier Wochen”, wirbt er auf Telegram. Wie soll das gehen? Er sagt, er habe Freunde in Moskau, die bei der Beschaffung der Papiere helfen. Ins Detail geht er nicht. Aber vier Tage für einen Reisepass ist für Russland eine ungewöhnlich kurze Frist.

Sergej P. hat kein Büro, besitzt keine Anwaltslizenz, spricht nur gebrochen Deutsch. Dafür kennt er ein paar Berliner Anwälte und Journalisten, er kann Leute für sich einnehmen, und das Wichtigste: Er kann bei seinen “Beratungen” damit punkten, dass er die Mühlen des deutschen Asylsystems selbst durchlebt hat.

Eigene Fluchtgeschichte als Kopiervorlage

Ende 2020 hat er als einer von nur wenigen Russen in Berlin Asyl bekommen. Während im Spätsommer die deutschen Medien über den vergifteten russischen oppositionellen Politiker und Blogger Alexej Nawalny berichteten, der in der Berliner Charité behandelt wurde, erzählte Sergej P. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), er sei ein oppositioneller Umweltblogger aus Südrussland. Im Gegensatz zu Nawalny sei er unbekannt, sagte er immer wieder über sich. Das BAMF glaubte ihm und gab dem Asylantrag statt.

Porträtaufnahme von Sergej P.

“Beratungsbüro für Asylbewerber und Geflüchtete”: Sergej P. hat selbst 2020 in Deutschland Asyl bekommen

Er erfinde nichts Neues, sagt Sergej, sondern biete lediglich anderen an, seinen Fall zu “kopieren”. Und so vermarktet der “kritische Blogger” seine Erfahrungen: Er hilft bei der Beschaffung von Schengen-Visa, bei der Planung der komplizierten Flüge, er sucht eine Unterkunft, vermittelt Anwälte. So weit so gut.

Doch auf Telegram bietet er weitere eher zweifelhafte Dienstleistungen an: Hilfe bei der Suche nach einem Asylgrund und beim “Aufsetzen einer Geschichte”. Und während Sergej P. behauptet, er verdiene nichts daran, steht in jedem seiner Accounts: “Beratung ist kostenpflichtig”. Darauf angesprochen, sagt Sergej: “Ja, das erste Telefonat kann tatsächlich bis zu 30.000 Rubel kosten”, das sind mehr als 350 Euro. Wer zu faul sei, alle seine Posts durchzulesen, der solle eben zahlen.

Putin-Gegner aus der Provinz

Maria K. stammt aus einem sibirischen Dorf am Baikalsee. Die 33-jährige Lehrerin ist nie zuvor im Ausland gewesen. Im Sommer 2022 verkauft sie ihre Wohnung, besorgt sich ein griechisches Touristenvisum und landet nach einer tausende Kilometer langen, mehrtägigen Odyssee mit Zwischenlandungen in Nowosibirsk, Moskau, Istanbul und Athen in Berlin. Sergej organisiert Interviews mit deutschen Medien. Maria erzählt, sie sei wegen ihrer Antikriegshaltung vom russischen Geheimdienst bedrängt worden. Als Lehrerin habe sie sich geweigert, die staatlich vorgeschriebene Linie zum Krieg im Unterricht zu verbreiten. Eine ihrer Kolleginnen habe sie denunziert: “Ich hatte keine Zukunft in Russland, früher oder später hätten sie mich verhaftet. Denn ich konnte nicht schweigen”, sagt sie der DW. Nur 27 Tage später erteilen die deutschen Behörden Maria K. Asyl.

Eine ehemalige Schullehrerin aus Sibirien steht vor einem Wohnblock

Die ehemalige Lehrerin Maria K. aus Sibirien hatte Glück: Sie hat mittlerweile in Deutschland Asyl erhalten

Wenige Wochen später landet in Berlin die nächste Regimekritikerin – wieder eine junge, unverheiratete Frau, wieder aus der tiefsten Provinz, diesmal eine Krankenschwester. Auch sie berichtet in einer großen deutschen Tageszeitung von staatlicher Verfolgung, hat jedoch weniger Glück: Da sie mit einem italienischen Visum eingereist ist, wollen die Behörden sie nach Italien abschieben. Dennoch hält sie sich weiterhin in Berlin auf, Sergej hat angeblich Kirchenasyl vermittelt.

1500 Euro Vorkasse – und Stille

Noch weniger Glück hat ein Pärchen aus St. Petersburg: Die beiden scheitern bereits am Versuch, nach Deutschland einzureisen. Das Dumme: Sie haben 1500 Euro an Sergej überwiesen, die er nicht zurückzahlen will. Der 32-jährige Daniil G. wohnt seitdem in Istanbul, sein türkisches Visum ist längst abgelaufen. Er floh mit seiner Freundin im Frühling 2022 aus St. Petersburg über Usbekistan in die Türkei. Die beiden wollten weiter nach Europa, haben aber kein Visum.

Sergej hatte auch hier eine Lösung parat: Die beiden sollten einen Flug in ein visafreies Land mit Umsteigen in Deutschland buchen und bei der Zwischenlandung Asyl beantragen. Für die 1500 Euro Vorkasse organisierte Sergej einen Anwalt, er hat Kopien der Vollmacht. Der Plan war, dass der Anwalt am Flughafen wartet, wenn das Pärchen aus Istanbul landet und Asyl beantragt. Doch der Plan ging nicht auf.

Porträtaufnahme von Daniil G.

Daniil G. hatte Pech: Er hat Sergej P. 1500 Euro überwiesen und will nun sein Geld zurück

Daniil und seine Freundin haben zwar Flüge in die für Russen visafreien Staaten Serbien und Marokko gebucht, doch jedes Mal stoppten die Airline-Mitarbeiter die beiden schon am Istanbuler Flughafen. Der Trick hatte sich schnell herumgesprochen, die Airlines nehmen keine Passagiere ohne gültiges Visum mehr mit, die angeblich in Deutschland “nur umsteigen” wollen.

Als Daniil seinen Berliner Helfer um die Rückgabe des Geldes bittet, bricht der den Kontakt zu ihm kurzerhand ab. Sergej dagegen behauptet, er habe das ganze Geld an den Anwalt weitergeleitet. Daniil beantragt im Juli 2022 beim deutschen Konsulat in Istanbul ein humanitäres Visum – und wartet seitdem auf eine Entscheidung. Sein Pass mit dem abgelaufenen türkischen Visum liegt seit mehr als sechs Monaten in der Visastelle des deutschen Konsulats.

Sich aufregen – und weitermachen

Wer Sergej P. mit all diesen Details konfrontiert, erlebt seine andere Seite. Nachdem das russische Programm der DW über sein Geschäftsmodell berichtet hatte, publiziert er ein neunminütiges Wut-Video, in dem er zwei russische Menschenrechtsaktivistinnen beschuldigt, die Publikation über ihn lanciert zu haben. Dem DW-Reporter droht er mit einer Klage und einem vom Gericht erlassenen “Berufsverbot”.

Deutschland: Heimat für russische Deserteure

Einen Tag später meldet er sich erneut: Die Berichterstattung habe ihm 4000 neue Abonnenten auf Telegram verschafft. Das Leben geht weiter. Er postet ein neues Video vom Flughafen Berlin, er holt schon wieder jemanden ab, der es trotz aller Hindernisse nach Deutschland geschafft hat. Es ist ein junger Mann, angeblich auf der Flucht vor der Mobilmachung und dem Ausreiseverbot. “Aber ich”, sagt Sergej, “habe es ihm ermöglicht, nach Europa zu kommen.” Ganz selbstlos natürlich.